Er ist gekommen, um Zeugnis abzulegen. Der Japaner Naoto Matsumura hat am eigenen Leib erfahren, was eine nukleare Katastrophe im Leben eines Menschen zerstören kann. Matsumura stammt aus Tomioka, einer 16'000-Einwohnerstadt in der Provinz Fukushima, zwölf Kilometer entfernt vom havarierten Atomkraftwerk Fukushima Daishi. Noch bis zum 21. März ist er in Europa, die meiste Zeit davon im Dreiland. Unter anderem nahm er vorletztes Wochenende an einer Demonstration gegen das AKW Fessenheim teil.

Zehn Tage und drei AKW-Explosionen nach dem Tsunami vom 11. März 2011 wurde Tomioka von den japanischen Behörden evakuiert, und Matsumura machte sich mit seinen Eltern und einer Grossmutter zu einer Tante auf, die 30 Kilometer entfernt wohnte. Der Empfang war grauenhaft: «Als ich die Gesichter meiner Tante und ihrer Familie sah, las ich darin die panische Angst, kontaminiert zu werden. Der Schrecken war unkontrollierbar; derart, dass sie uns nicht in die Wohnung liessen. Als wir schliesslich drinnen waren, drehte sich das Gespräch nur um ein Thema: Wie wir sofort wieder weg und in ein Auffanglager gehen könnten», erinnert sich Matsumura im Buch des Fotoreporters Antonio Pagnotta «Le dernier homme de Fukushima».

Aber auch im Auffanglager waren die Matsumuras unwillkommen, da es für eine andere Stadt vorgesehen war. Sie beschlossen, zurück nach Tomioka und zu ihrem Hof zu fahren, den die Familie in der fünften Generation bewirtschafte. Schnell wurde Naoto Matsumura klar, dass viele Einwohner ihre Tiere zurückgelassen hatten und er begann, sich um sie zu kümmern. Anfangs reichte das Futter, das liegen geblieben war, aber schon bald musste er einen Tierschutzverband um Hilfe bitten, der das Tierfutter, aus Angst vor den Strahlen, in die 100 Kilometer entfernte Stadt Iwaki lieferte. Für jede Lieferung musste Mutsumura 200 Kilometer hin und zurück fahren.

In hitzigen Telefonaten versuchten Matsumuras Brüder ihn zu überzeugen, den verstrahlten Ort zu verlassen. Mitte April stand im Morgengrauen eine Gestalt mit Antistrahlenkleidung und Gasmaske vor der Tür. «Er ähnelte einem Ausserirdischen», so Matsumura. Es war einer seiner Brüder. «Ihr werdet alle sterben, wenn ihr bleibt. Ihr müsst gehen», argumentierte er. Eltern und Grossmutter überzeugte er. Sie verliessen den Ort, um bei Naotos Schwester Mitoko unterzukommen.

Gebiet um AKW wird Sperrzone

Am 21. April wurden die 20 Kilometer um das AKW Fukushima Daishi zur Sperrzone erklärt. Wer sich dort ohne Erlaubnis aufhielt, musste 1000 Euro Strafe zahlen und/oder wanderte einen Monat ins Gefängnis. Naoto Matsumura blieb; eine offizielle Aufenthaltsgenehmigung erhielt er erst später. Vorerst machte die Polizei ihm keine Schwierigkeiten und liess ihn in Ruhe.

Vor dem Tsunami lebten nach offiziellen Angaben 10'000 Rinder, 31'500 Schweine und 630'000 Hühner in der Region. Zwei Monate nach der Katastrophe blieben 200 Rinder und 1000 Rinder; die meisten von ihnen waren verhungert und verdurstet. Ein Geräusch ist Matsumura am deutlichsten in Erinnerung geblieben: Das Summen und Brummen tausender Fliegen, die die Tierkadaver umschwirren.

Gleiches Lebensrecht für alle

Für Naoto Matsumura stand es ausser Frage, die überlebenden Tiere ihrem Schicksal zu überlassen. Tief verankert in der japanischen Naturreligion Shinto haben für ihn alle Lebewesen das gleiche Recht zu existieren. Die Entscheidung, in Tomioka zu bleiben und so dort eine Art Einsiedler wider Willen zu werden, war zudem ein Bekenntnis zu seiner Heimat.

Laut Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation, die allerdings von der japanischen Regierung bestritten werden, war Tomioka zwischen dem 11. März und dem 21. April 2011 einer Strahlung von 10 bis 50 Millisievert ausgesetzt; die maximale Jahresdosis für einen Menschen liegt bei einem Millisievert.

Naoto Matsumura hat sich untersuchen lassen. Der Arzt teilte ihm mit, dass er der meist verstrahlte Mensch Japans sei – ohne allerdings die genauen Werte zu sagen. Auf seine Empfehlung hat Matsumura darauf verzichtet, Nahrungsmittel aus der verstrahlten Zone zu essen. Er ernährt sich jetzt von Spenden, die ihm Unterstützer per Paket schicken. Da er schon 54 Jahre alt ist, dürfte er laut Arzt erst in 30 bis 40 Jahren an Krebs erkranken. Sorgen, sich von ihm mit Radioaktivität anzustecken, braucht sich niemand machen; er ist keine Gefahr für seine Mitmenschen. Um sich zu gefährden, müsste man ihn essen, da sich in seinen Knochen Strontium 90 abgelagert hat.

Die Opfer von Fukushima haben es schwer in Japan. Wie diejenigen von Hiroshima werden sie von der Gesellschaft als Ausgestossene, wenn nicht gar Aussätzige behandelt. Naoto Matsumura hat sich dieser Opferrolle verweigert und wurde so zum Symbol des Widerstands gegen die Atomenergie.

«Ich bin bereit, in der ganzen Welt Zeugnis abzulegen. Die Atomkraft ist sehr gefährlich und wir haben die Technik nicht im Griff. Drei Jahre nach der Katastrophe von Fukushima ist nichts geregelt», sagte Matsumura letzte Woche auf einer Medienkonferenz im Strassburger Europaparlament, die anlässlich des dritten Jahrestages von Fukushima stattfand. Zudem befürchte er, dass die japanische Regierung bald neue Atomkraftwerke bauen lassen werde.

Die Idee zu Matsumuras Europareise entstand im April 2013 bei einer Lesung des Fotoreporters Antonio Pagnotta in Strassburg, der den letzten Menschen von Fukushima mehrmals in der verstrahlten Zone für Reportagen besucht hatte. Finanziert wurde der gut zweiwöchige Aufenthalt durch Spenden über eine Internetseite.

Vor allem bekannt in Europa

Aufgrund von Medienberichten ist Matsumura in Europa und den USA erheblich bekannter als in Japan selbst. «Die japanischen Massenmedien haben meine Aussagen in ihren Beiträgen immer rausgeschnitten. Ich rede nicht mehr mit ihnen», sagt Matsumura gegenüber der bz. Die Europareise sei auch ein Versuch, atomkritische Argumente mit dem Umweg über die westlichen Medien in die japanischen zu bringen.

Im Laufe der Jahre ist die Zahl der Tiere, um die Matsumura sich kümmert, geschrumpft. «Heute sind es noch 33 Rinder, ein Pferd, ein Strauss, wenige Hunde und etliche Katzen. Die Kühe müssen nicht gemolken werden, weil sie keine Milch mehr geben», erzählt er nach einer symbolischen Aktion zur Erinnerung an Fukushima im Innenhof des Europaparlaments. Während seiner Abwesenheit kümmert sich sein Bruder um die Tiere.

Angst habe er nur am Anfang gehabt und auch der Gedanke, die verstrahlte Region wieder zu verlassen, sei ihm so gut wie nie gekommen, berichtet Matsumura weiter. Die Idee, bald wieder in die Einsamkeit zurückzukehren, störe ihn. Ob er in zehn Jahren immer noch dort sei? «Vielleicht», antwortet der letzte Mensch von Fukushima, und lacht.